Legal Tech – Neue Wege auch für die Justiz?

Legal Tech – Neue Wege auch für die Justiz?

27.05.2021 in Jura & Lehre

Visionäre Online-Tagung des BMJV und der Deutschen Richterakademie 

Unter dem Titel „Legal Tech – Neue Wege auch für die Justiz?“ fand vom 26. bis 27.05.2021 eine spannende Online-Tagung der Deutschen Richterakademie statt. Seit Langem einmal wieder eine Fortbildung, die sehr vielversprechend erschien und mich wirklich interessierte. 

Unter der gelungenen Moderation von Dr. Philip Scholz vom Referat Öffentlichkeitsarbeit im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) in Berlin eröffnete Sina Dörr, Richterin am Landgericht Köln, derzeit am BMJV die Vortragsreihe mit ihrem Beitrag „Digitaler Wandel und Justiz – Mensch 4.0“ und spannte einen weiten Bogen über die Entwicklungsgeschichte der Menschheit, die aktuelle Hirnforschung und die Industrialisierung, die nun auch in der Welt der Juristen angekommen sei. Sie betonte dabei die exponentielle Beschleunigung, mit der sich Veränderungsprozesse auf der Zeitachse bewegten und postulierte Legal Tech als Werkzeug zur notwendigen Anpassung im Zeitalter des Digitalen Wandels.

Mit „Legal Tech – Digitalisierung des Rechtsmarkts und Modernisierung der Justiz“ nahm Markus Hartung, Rechtsanwalt und Mediator in Berlin sowie Senior Fellow am Bucerius Center on the Legal Profession eine aktuelle Standortbestimmung in der digitalen Dienstleistungslandschaft vor und führte anhand prominenter Unternehmens-Beispiele wie Flugrecht.de und RightNow.de aus, was diese Dienste auszeichnet und worin deren Erfolge begründet liegen. Er warf die Frage auf, ob solche Erfolgsmodelle Vorbild für die Modernisierung der Justiz sein könnten.


Flugrecht.de ist eines der Vorzeige-Unternehmen im Bereich Legal Tech.
Kein Risiko, keine Gebühr. Provision nur im Erfolgsfall.

Damit eröffnete Hartung dann auch die anschließende Paneldiskussion mit folgenden Teilnehmern: Isabelle Biallaß, Richterin am Amtsgericht, derzeit Ministerium der Justiz NRW, Dr. Benedikt Quarch, Mitgründer und Geschäftsführer der RightNow Group, Sven Lastinger, Rechtsanwalt und Director EU Commercial Legal bei PayPal. 

Es wurde angeregt über das Verhältnis von juristischen Dienstleistungsunternehmen zur Justiz diskutiert. Dabei wurde deutlich, dass das Motto der Gegenwart nicht „Legal Tech versus Justiz“, sondern „Legal Tech ergänzt Justiz“ laute, aber in Zukunft ein „Legal Tech auch mit und in der Justiz“ dringend geboten sei.

Der erste Nachmittagsvortrag „Digitalisierung und Gerichtsöffentlichkeit“ von Dr. Anne Paschke, Bundeskanzleramt und Munich Center for Technology in Society, Technische Universität München, hatte mit Legal Tech im Sinne von automatisierten Abläufen in der juristischen Arbeit nicht viel zu tun. Viel mehr war es der Versuch, den Begriff der in § 169 Gerichtsverfassungsgesetz garantierten „Öffentlichkeit“ von Gerichtsverhandlungen und Urteilverkündungen für das 21. Jahrhundert als Internet-Öffentlichkeit neu zu denken. Im Text-Chat wurde das Ganze sehr kontrovers kommentiert, was mich an meine eigenen Bemühungen vor rund 20 Jahren erinnerte, Zwangsversteigerungstermine nicht mehr an die Gerichtstafel zu hängen, sondern im Internet zu veröffentlichen (was mit der Neufassung des § 39 Abs. 1 ZVG durch das Justizkommunikationsgesetz 2005 schließlich erfolgreich war). 

Im abschließenden Vortrag des ersten Tages mit dem Titel „Künstliche Intelligenz im Recht – Wie sie funktioniert und was zu beachten ist“ erläuterte Tianyu Yuan, Rechtsanwalt, Mitgründer und Geschäftsführer der Codefy GmbH, die Möglichkeiten und Grenzen der aktuellen KI im Allgemeinen sowie im Kontext der Juristerei. Kritisch zu hinterfragen sei immer der „biological bias“, der Einfluss menschlicher Wertung bei Setting und Training von KI-getriebenen Systemen. Juristische Arbeit sei zudem Klassifizierungsarbeit und müsse nicht zwingend in jedem Anwendungsfall KI-basiert erschlossen werden. Manchmal täten es auch klassische regelbasierte (Experten-)Systeme. Natürlich war das eine geschickte Überleitung zur Präsentation der von seinem Unternehmen entwickelten Codefy-Software, die einen hybriden Ansatz verfolgt. Vermisst habe ich einen Hinweis auf ganz aktuelle Ansätze in der KI-Forschung, die unter anderem auch auf die Minimierung bzw. Vermeidung des Bias zielen. Aber den anwesenden Juristen wurde in der betont limitierten Darstellung von KI immerhin (erfolgreich?) die Angst genommen, dass sie durch KI ersetzt werden könnten. 

Professorin Dr. Giesela Rühl, LL.M. (Berkeley), Inhaberin des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilverfahrensrecht, Internationales und Europäisches Privat- und Verfahrensrecht und Rechtsvergleichung an der Humboldt-Universität zu Berlin und Dr. Wiebke Voß, Habilitandin an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg befassten sich in ihrem Vortrag „Digitalisierung des Zivilprozesses: Evolution oder Revolution?“ mit dem Diskussionspapier der Arbeitsgruppe „Modernisierung des Zivilprozesses“. Die Arbeitsgruppe unter Vorsitz des Präsidenten des Oberlandesgerichts Nürnberg, Dr. Thomas Dickert, schlägt darin weitreichende und innovative Modernisierungen des Zivilprozesses vor, um neue technische Möglichkeiten sinnvoll nutzbar zu machen und Gerichtsverfahren bürgerfreundlicher, effizienter und ressourcenschonender zu gestalten. Das Papier kann hier abgerufen werden: https://www.justiz.bayern.de/gerichte-und-behoerden/oberlandesgerichte/nuernberg/aktuelles.php


Internet-Übertragungen aus dem Gerichtssaal. Noch ein weiter Weg zur selbstverständlichen Normalität?

Als einer der Experten zum Thema rund um § 128a ZPO (und entsprechende Vorschriften im ArbGG, FGO, SGG etc.) gilt Benedikt Windau, Richter am Landgericht, Gründer und Herausgeber von zpoblog.de. In seinem Vortrag „Videoverhandlung im Zivilprozess: Erfahrungen, Chancen, Herausforderungen“ räumte er zunächst mit einigen verbreiteten Irrtümern auf und ging dann auf sachliche und persönliche Anwendungsbereiche ein. Ganz praktische Fragen wurden erörtert: Um die Nichtöffentlichkeit in einem familiengerichtlichen Verfahren herzustellen, genüge es laut Windau, anfangs die Kamera des zu Vernehmenden im Raum zu schwenken und so sicherzustellen, dass kein Unbefugter teilnimmt. Das Beispiel zeige aber, dass im Zuge des technischen Fortschritts nicht alle Übertragungswege vollständig kontrollierbar seien. Auch die Frage, wie viele Kameras benötigt werden, um Gestik und Mimik aller Verfahrensbeteiligten ausreichend gut abbilden zu können, wurde mit den Teilnehmern eingehend erörtert. Interessant fand ich, dass dabei über zwei oder drei Kameras diskutiert wurde und offenbar die Existenz von 360°-Kameras unbekannt war. Auf meinen Hinweis im Text-Chat dazu wurde diese Variante dann doch von einem weiteren Teilnehmer mit Blick auf die große Praxistauglichkeit positiv kommentiert. Abschließend meldete Windau einen gewissen juristischen, aber vor allem einen technischen Reformbedarf an: in der Gerichtspraxis mangele es oft an geeigneter Videokonferenzsoftware mit akzeptabler Übertragungsqualität, Datensicherheit und der Möglichkeit, die Parteien zeitweise in Teilgruppenräume entlassen zu können. Ferner sollten Sitzungssäle künftig standardmäßig so ausgestattet sein, dass sie Hybridverhandlungen ermöglichten. Die Technik müsse insgesamt einfacher bedienbar werden, auch sei Support durch Ansprechpartner vor Ort erforderlich. Nach einem Hinweis des BMJV läuft das Projekt „Bundeseinheitliche Referenzimplementierung für Videoverhandlungen“ auf Hochtouren. Alle Bundesländer und Bundesgerichte seien an der Entwicklung beteiligt. Den Juni über fänden noch Vertiefungsworkshops zu den Anforderungen statt. Ein Rahmenkonzept solle nach dem Sommer stehen.

Fazit: Die rundum gelungene Online-Fortbildung bot einen bunten Strauß an Vortragsthemen. Nicht alle wurden dem titelgebenden Begriff „Legal Tech“ im eigentlichen Sinne gerecht, aber wer den aktuellen Stand der Dinge in der Justiz kennt, durfte sich doch zumindest über deutlich mehr Digitalisierung – jedenfalls beim Vorausdenken einer modernen Justiz von morgen oder übermorgen – freuen… oder auch fürchten, wie manche Teilnehmerbeiträge vermuten ließen. Ein großes Kompliment an das BMJV und die Deutsche Richterakademie für dieses offene und kommunikative Veranstaltungsformat!


Titelbild: Lawyer Or Attorney Online Legal Video Call von Andrey Popov, Pond5
Bild 1: Background.nice von Emma Kansi, Pond5
Bild 2: Cctv Camera Security On Wall Background For Safety Concept von Frameangel, Pond5

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  1. Prof. Dr. Peter Metzen - 28.05.2021

    Lieber Andreas,

    vielen Dank für Deinen interessanten Bericht über die visionäre Online-Tagung des BMJV und der Deutschen Richterakademie „Legal Tech – Neue Wege auch für die Justiz?“

    Ich bedaure, dass ich als „doppelt“ pensionierter Richter am OLG Köln und Professor an der FHR NRW Bad Münstereifel an dieser spannenden Entwicklung nicht mehr aktiv teilhaben kann – wenn ich auch meinen Ruhestand durchaus genieße (derzeit mit Corona-Beschränkungen).

    Jedenfalls bin ich ein wenig stolz, dass ich Deine herausragenden IT-Fähigkeiten – auch im FHR-Lehrbereich – erkannt und – auch gegen „analoge Haus-Strömungen“ nach besten Kräften gefördert habe.

    Mit herzlichen (Ex-) kollegialen Grüßen

    Peter Metzen.

    Euskirchen, den 28. Mai 2021

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